Bild: Lehren und Lerne modellieren – Referat liegend. 

Empirische Kulturwissenschaft als Lehr-Lernpraxis

Mit einer an den Science and Technology Studies orientierten Perspektive wird in diesem kumulativen Habilitationsprojekt der Fokus auf einen zentralen Bereich des Wissenschaftsalltags der Empirischen Kulturwissenschaft gerichtet: die Lehr-Lernpraxis und die damit verschränkte spezifische Fachdidaktik als Technik der Empirischen Kulturwissenschaft. Im Lehren und Lernen ereignet sich «Empirische Kulturwissenschaft» in Praxis. Hier werden das Fach, seine Inhalte und Perspektiven, seine Aufgaben im (bildungs-)politischen Kontext und seine gesellschaftliche Relevanz, die Fachvertreter:innen und die Studierenden, die Szenografien der jeweiligen Veranstaltung, die Konstellation der Dinge in Raum und Zeit immer wieder auf vielstimmige, relationale, gegenderte und situative – zum Teil sehr zufallsbestimmte – Weise hergestellt, performiert, inszeniert, ausgehandelt und im kollektiven Austausch wie auch individuell prozesshaft erfahren.

Diese Wissenszirkulation geschieht durchaus multisensorisch, atmosphärisch und bewegt: die Stimme der Dozierenden, die Temperatur im Raum, die technische Infrastruktur, der Lichteinfall, Müdigkeit, die Anordnungen der Sitzplätze, eine SMS auf dem Smartphone und vieles mehr gestalten das Arrangement. Zudem können auch biographische Faktoren einwirken und sich beispielsweise in der Intension und Dringlichkeit – in diesem Projekt ein Feldbegriff – widerspiegeln, mit denen studiert oder doziert wird.

Während in Bezug auf die Forschungstätigkeiten des Fachs und seiner inhaltlichen, theoretisch-konzeptionellen und methodologisch Ausrichtung – wie etwa Seminarprogramme, Sammelband- und Zeitschriftenbeiträge aufzeigen – eine hohe Selbstreflexion stattfand und -findet, wurden das Lehren und Lernen bisher eher im impliziten Modus betrieben oder zumeist nur unter Einbezug allgemeiner hochschuldidaktischer Fragen reflektiert. Mit einem konstruktivistischen Ansatz betrachtet, sind aber gerade die Lehrveranstaltungen, Orte und Momente, in denen «Kulturwissenschaft» inszeniert («enacted») wird. Um die Wissenszirkulation auf der Ebene ihrer ontologischen Emergenz kritisch mitreflektieren zu können, müssen auch Lehr-Lern-Arrangements analysiert und in ihren Wertbehaftungen und hegemonialen, ausgehandelten Schwerpunktsetzungen transparent und dadurch diskutierbar gemacht werden. Als Folge eines solchen Reflexionsprozesses kann ein Gestaltungsbedürfnis und -wille entstehen. Auch diese dürfen und müssen als Momente «produktiver Macht» im Sinne des Foucault’schen Lebenskunst Ansatzes kritisch in diese Diskussionen einbezogen werden. Entspricht es beispielsweise einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, in Lehrveranstaltungen möglichst flache Hierarchien anzustreben oder/und bedient eine solche Anordnung auch ein akademisches Bild innovativer Lehre, das wiederum eingelassen ist in karrieristische Leistungsdispositive gegenwärtiger Universitätsimages? Ist eine Diskussion «auf Augenhöhe» immer angebracht oder könnte sie zum Teil auch die Accessability für gewisse Akteure verunmöglichen? Solche und ähnliche Fragen begleiten den Forschungsprozess, ohne dass dazu ein abschliessender Kommentar angestrebt wird. Da sich diese Arrangements situativ ereignen, müssen, kulturwissenschaftlich analytisch betrachtet, auch die hegemonialen Settings stets aufs Neue und vor Ort befragt werden.

Im Projekt werden komplementäre Aspekte dieser Lehr-Lernpraxis sowohl empirisch wie auch theoretisch-konzeptionell erforscht: unter anderem das Modellieren der Arrangements, also die aktive Gestaltung vielfältiger Settings unter dem Einbezug der Dinge als Teile der Lehr-Lern-gemeinschaft, die performative-multisensorische Seite als Momente, in denen Möglichkeitsspielräume der Wissenszirkulation thematisiert und verändert werden können, Dringlichkeitsdimensionen und biografischer Bias, also Intentionalität und Ernsthaftigkeit des Handelns, raumzeitliche Aspekte oder Vorgaben und die dinglichen Akteure, Kompetenzen wie etwa «Selbstständigkeit» als Arbeitshaltung, berufliche Perspektive und implizites Lernziels. Je nach Unterthema wird mit einem anderen methodischen Werkzeugkasten gearbeitet. Eine wichtige Grundlage bilden aber die teilnehmende Beobachtung und autoethnografische Zugänge. Darüber hinaus werden dabei auch fachdidaktische Fragen aufgeworfen, wobei «Fachdidaktik» weit gefasst wird: als reflexiver, offener Prozess im Rahmen der partizipativen Praxis des Lehrens und Lernens, im Zuge dessen Fragen zur produktiven Gestaltung aufgeworfen aber nicht abschliessend festgelegt werden. In Bezug auf eine fachdidaktische Reflexion geht also nicht darum «best practice» vorzuführen, sondern, wie es in der Hochschuldidaktik oft – zwingend in Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt – benannt wird: Den Diskurs über «gute» Lehre anzuregen. Didaktische Fragen sind zumeist mit einem Verbesserungswillen verschränkt, doch gilt es gerade in der Kulturwissenschaft genau die Anführungs- und Schlusszeichen zu berücksichtigen und die mit den Lehr-Lernpraktiken verschränkten – oft selbstverständlich vollzogenen impliziten – Wertungen kritisch zu reflektieren.

Die Hauptfragestellung lautet entsprechend einer qualitativen Forschung entsprechend offen formuliert: Wie wird «Empirische Kulturwissenschaft» auf der Ebene der Lehr-Lernpraxis im Kontext aktueller Wissens- und Wissenschaftspraktiken hergestellt?

Weitere Informationen

Forschungsdatenbank